Neues für die engagierte Stadt

Zwischen Wunschkonzert und Wirklichkeit – Stimmen aus Forst (Lausitz)

Ein Text von Birthe Zenker und Manuela Kohlbacher, Kompetenzzentrum Forst (Lausitz)

„Wahnsinn!“, das war das Wort des Jahrs 1989, dem Jahr des Mauerfalls und der Beginn großer Veränderungen. Jeder hat dabei seine eigenen Erfahrungen gemacht. Chancen, großes Glück oder auch Enttäuschungen – der Fall der Mauer hat den Menschen Freiheit und Demokratie sowie eine hohe Lebensqualität gebracht. Die Geschichte und die Situationen in der DDR in der Zeit des Umbruchs und in den Folgejahren bleiben auch nach Jahren von Bedeutung. Neues Interesse ist an den damaligen Geschehnissen der Wendezeit entstanden. Vor allem auch bei der Generation, die diese Zeit nur aus Erzählungen kennt.

Wir brauchen weniger Belehrung als Erinnerung.
Die Erinnerungskultur hilft dem Einzelnen und der Gesellschaft,
mit der Vergangenheit und der Geschichte umzugehen.

Es ging bei der Projektarbeit nicht nur darum, sich an die Wende zu erinnern, sondern auch die damit verbundenen Veränderungen und Brüche zu reflektieren. Wir haben es in der Lausitz erneut mit einem Strukturwandel zu tun. Auch der Kohleausstieg ist eine Wende, die es zu bewältigen gilt. Das ist das wesentliche Anliegen: Wie können wir die Erinnerungen an die friedliche Wende heute nutzen? Was kam nach der Wende? Haben wir die Wende gestaltet? Hat sie uns gestaltet? Wichtig sind die Geschichten der Menschen, mit denen die Realität aus unterschiedlichen Fragmenten und Perspektiven zusammensetzt werden kann.

Um mit dem Projekt hierfür einen Beitrag zu leisten, sind Projektbausteine bzw. Veranstaltungsformate als Veranstaltungsreihe geplant und initiiert worden, die in einem angenehmen Rahmen zum Zuhören, Erzählen, Diskutieren und Reflektieren anregen.

Ausblick

Am Ende zeigt das Projekt mit seiner Veranstaltungsreihe, wie groß der Bedarf nach Austausch und Reflektion über diese Zeit auch 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution und Deutschen Einheit ist. Gerade im Hinblick auf die teilweise fast bipolaren Biografien, Erfahrungen und Perspektiven auf diese Zeit. Beeindruckend war zu sehen und zu erleben, wie konstruktiv mit dieser Gegensätzlichkeit umgegangen wird. Dies gibt Hoffnung für die aktuelle politischen Debatte.

Rückblick

Die Veranstaltungsreihe startete mit einem Familiengottesdienst, gefolgt von einem Kaminabend, einer Buchlesung, einem Schul-Projekttag und schloss mit einem Kneipenabend ab. Projektbegleitend wurde eine kleine Sammlung von „DDR-Relikten“ initiiert und in einer Ausstellung im Kompetenzzentrum während der Projektlaufzeit öffentlich präsentiert. Zusätzlich entstand die Idee, Zeitzeugen aus Forst zu interviewen und ihre persönlichen Geschichten mit Bildern von Forst aus der Zeit vor 30 Jahren in einem Buch zu „30 Jahren Wende“ nachhaltig sichtbar zu machen.

Mit einem fröhlichen und gleichzeitig nachdenklich stimmenden Familiengottesdienst in der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde hat der Veranstaltungsreigen innerhalb des Projektes „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit – Engagierte Stadt Forst“ am 06. Oktober 2019 um 10:00 Uhr begonnen. Dabei ging es um nichts Geringeres als Freiheit. Was hindert Menschen daran, frei zu sein? Ihre Antworten dazu schrieben Besucher auf große Pappkartons, aus denen Kinder eine Mauer errichteten, um sie später einzureißen. Ein Iraner, der aus seiner Heimat flüchten musste, um als Christ frei seinen Glauben leben zu können, erzählte von der Angst, dass ihm die gewonnene Freiheit wieder genommen werden könnte. Liedersänger Wolfgang Dannat spielte Songs, die von der Sehnsucht nach Freiheit erzählen. Und wenn Freiheit nicht mehr nur Sehnsucht ist? Pastor Werner Piel aus Berlin sprach über die Befreiung des Volkes Israel aus der ägyptischen Herrschaft und darüber, wie schnell die Stimmung umschlagen kann – von Freude in Unzufriedenheit. Nach dem Gottesdienst war Zeit für lebhafte Gespräche.

Oktoberwetter ist Kaminzeit. Das Projekt war der Anlass, am 23. Oktober um 19.00 Uhr im Gästehaus der Evangelisch Freikirchlichen Gemeinde das Kaminfeuer anzuzünden und Gäste einzuladen.  „Zwischen Wunschkonzert und Wirklichkeit“ lautete das Motto des herbstlichen Abends, moderiert von Ingrid Ebert, umrahmt von einem kleinen Buffett und Liedern mit Gitarrenbegleitung, gespielt von Wolfgang Dannat. Die fünf geladenen Referenten Manfred Geisler, Bernd Beyer, Dagmar Friederich, Tim Niedermeiser und Wolfgang Dannat ließen auf dem „heißen Stuhl“ – direkt vor dem Kamin – Revue passieren, was sie persönlich zur Wende erlebt haben, wie ihr Werdegang war und mit Forst im Zusammenhang stand. Auf das damals allgegenwärtige Wort „Wahnsinn“ griff Ingrid Ebert in ihrer Eröffnungsrede zurück. Zurück in die Zeit, als die innerdeutsche Grenze sich öffnete und die nun schon 30 Jahre zurückliegt. Damals kamen als Erstes viele Wolgadeutsche nach Forst, erinnerte sich Ingrid Ebert. „Es gibt gar keine echten deutschen Männer mehr“, habe eine Umsiedlerin zu Ingrid Ebert gesagt. Wie denn ein echter deutscher Mann aussehe?, “Mit Anzug und Krawatte und gescheiteltem Haar.“ Die Gäste schmunzelten bei diesen Vorstellungen. Es zeigt aber auch wieder einmal, dass „Bilder im Kopf“ und Realität oft nicht zusammenpassen. „Über sieben Brücken“ sang Wolfgang Dannat zur musikalischen Eröffnung. Die fünf geladenen Referenten stellten sich den Anwesenden kurz vor. Eine aufgestellte Sanduhr sorgte für die Einhaltung einer Redezeit von 15 Minuten, denn jeder der fünf hätte auch den Abend lang erzählen können.

Bernd Beyer erzählte als einziger „richtiger Ostdeutscher“, wie Ingrid Ebert ihn bezeichnete, von seinen persönlichen Erfahrungen in jener Zeit. Er studierte Fernmelde-Ingenieur und war auch bei der Polizei. Er erzählte, wie er von der Stasi überwacht wurde, weil Freunde von ihm Mitglieder im „Neuen Forum“ waren. Was sich nach 30 Jahren teils amüsant anhörte, war damals bitterer Ernst. Und niemand wusste, wohin es geht. Bernd Beyer stellte nach der Wende den Antrag auf Einsicht in seine Stasi-Akten. 180 Seiten befanden sich in einem verschlossenen Umschlag, vieles in den restlichen Akten war geschwärzt und somit nicht mehr lesbar. Auf erneute Anfragen habe er die Antwort bekommen, er solle „von weiteren Nachfragen Abstand nehmen“. Mit sehr emotionalen Worten erzählte er, wie sich dann die Arbeitslage änderte, Ostdeutsche nicht erwünscht waren und auch seine Ehe zerbrach. „In den Jahren nach der Wende hatte jeder mit sich selbst zu tun“, so der jetzige Schriftsteller. Die Kontakte zu Freunden wurden seltener. Früher habe man mehr Freizeit miteinander verbracht, „Ein kompletter gesellschaftlicher Umbruch.“

Wolfgang Dannat führte die Liebe vor 23 Jahren nach Forst. Er selbst bezeichnet sich als „Wossi“. Freunde erklärten ihn damals wegen großer Vorurteile für verrückt, in den Osten zu gehen. „Ich mag Forst und ich mag den Osten“, sagt der Musiker. Mit Liedern wie ,,Als ich fortging“, ,,Freiheit“, und „Über den Wolken“ rundete er den Abend musikalisch ab. Erfahrungen von zugezogenen Forstern aus West und Ost. Die einen sind aus dem tiefsten Westen in den äußersten Osten Deutschlands gekommen, die anderen kamen aus Russland, aus der Ukraine, aus Afghanistan und dem Iran. An diesem Abend ging es um ihre Gründe und Vorstellungen, aber auch um ihre ersten Erfahrungen und die Wirklichkeit von heute.

Im Brandenburgischen Textilmuseum der Stadt Forst (Lausitz) wurde am 03.11.2019 um 15:00 Uhr die Veranstaltungsreihe fortgesetzt und zu einer Gesprächsrunde bei Sonntagskaffe und Kuchen mit Buchvorstellung eingeladen. Die Forsterin Ingrid Ebert ist als Autorin des Buches „Mauerfall, Deutsche Einheit – Gott sei Dank“ (Hrsg. Frieder Seidel) gefragt worden, wie sie die Wende erlebt und wie diese ihr Leben verändert hat. Gemeinsam mit ihrem Mann Wilfried Ebert las sie aus diesem Buch vor. Gespannt lauschten die Gäste den rührenden Geschichten und Erzählungen. Berichtet wird im Buch beispielsweise von einem jungen Menschen, der wegen eines 70×90 Plakates inhaftiert wurde oder von den Geschehnissen der Montags-Demonstrationen. Angefangen, so erfahren die Zuhörer, hat alles in Plauen und nicht, wie oft angenommen, in Leipzig. Die erste Demonstration fand am 7. Oktober in Plauen, am 8. Oktober in Dresden und am 9. Oktober in Leipzig statt. 30 Autoren und Autorinnen kommen in diesem Buch zu Wort. Alle haben etwas gemeinsam: Sie wollen selbstbestimmt und in Freiheit leben. 1989 hat Ingrid Ebert ein Gedicht geschrieben: „Erstarre nicht im Gestern, fang neu an“. „Mir liegt heute kein Klagelied auf den Lippen. Wenn auch nicht alle Wünsche in Erfüllung gegangen sind, so denke ich doch an vieles mit großer Dankbarkeit zurück“, so Ingrid Ebert.

Am 20.11.2019 fand ein Projekttag in Zusammenarbeit mit dem Gymnasium Forst (Lausitz) statt. An diesem Tag kam eine 10. Klasse des Gymnasiums in das Kompetenzzentrum Forst (Lausitz). Für diesen Projekttag konnten vier Zeitzeugen gewonnen werden, welche sich bereit erklärten, den Schülern von damals zu erzählen und Fragen zu beantworten. Darunter war ein ehemaliger Grenzsoldat aus der DDR, ein Pfarrer, der vor 30 Jahren bei den Friedensdemonstrationen in Forst eine tragende Rolle spielte, eine ehemalige Journalistin und ein ehemaliger Polizist aus der Kommunikationsabteilung der Polizei. Die Schüler sind in drei Gruppen zu je 10 Personen zwischen den Zeitzeugen rotiert. An jeder „Station“ hatten die Gruppen 45 Minuten Zeit. Zuerst gab es Bedenken, dass dies zu viel Zeit sein könnte. Genau das Gegenteil war der Fall. Bei jeder Gruppe wurde überzogen, sodass der Projekttag um eine reichliche Stunde verlängert werden musste.
Die Auswahl der Zeitzeugen erwies sich im Nachgang als optimal, da die Darstellung und auch die Schicksale eine hohe Diversität aufwiesen. Die ehemalige Journalistin erzählte von der Zensur und zog Parallelen zur Gegenwart. Sie motivierte die Schüler, in den Medien zwischen den Zeilen zu lesen, selbst nachzudenken und Verbindungen zu sehen. Der Polizist erzählte von den guten Seiten der DDR. Außerdem thematisierte er die starke Überwachung, der er auch ganz persönlich ausgesetzt war. Im Gespräch mit dem ehemaligen Grenzsoldaten erfuhren die Gymnasiasten viel über die Grenze und über Flucht. „Man hat es damals gemacht, weil man keine Möglichkeit hatte, um den Wehrdienst herum zu kommen. Ich wurde einfach an die Grenze geschickt; das war ein Befehl, da konnte man sich nicht widersetzen.“, so der ehemalige Soldat. Von dem vierten eingeladenen Zeitzeugen, einem Pfarrer, konnten die Schüler hören, wie er es damals geschafft hatte, den Wehrdienst zu verweigern und sein Abitur zu bekommen, ohne systemtreu zu sein. Grundsätzlich trafen zwei völlig gegensätzliche Erfahrungen aufeinander. In den Pausen konnten die Schüler in eine kleine Sammlung von DDR-Relikten, von Haushaltsutensilien, einem alten Spulentonbandgerät, einem Radio, über persönliche Dokumente, Fotos bis hin zu Spielzeug und Büchern einsehen. Großes Interesse weckten bei ihnen unter anderem alte Zeugnisse, Papiere und Schulbücher.

Zum Abschluss der vielfältigen Veranstaltungsreihe zu „30 Jahre friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ lud am 22.11.2019 um19:30 Uhr das Kompetenzzentrum zu einem „Kneipenabend“ ein. Eine nostalgische Getränkekarte mit beliebten Cocktails und musikalischen Hits aus den Zeiten vor, nach und um die Zeit des Mauerfalls sorgten für den Rahmen des Abends. Nach einer kleinen Einleitung hatte jeder der Anwesenden, ob Zeitzeuge oder nicht, freie und unbegrenzte Redezeit, welche zum Erinnern, Austauschen, Diskutieren und Informieren einlud. Es gab keine Bühne und kein starres Programm. Alles in allem entwickelte sich ein sehr entspannter und angenehmer Abend mit einem regen Austausch zwischen Gästen der unterschiedlichen Altersgruppen. Anwesende Zeitzeugen nutzen die Gelegenheit, um über ihre Erlebnisse, Erfahrungen und persönlichen Eindrücke und Empfindungen zu jener Zeit vor 30 Jahren zu sprechen, aber auch heitere Begebenheiten zum Besten zu geben. Ein schier unerschöpflicher Gesprächsbedarf ließ den Abend zu einem kurzweiligen, unterhaltsamen und spannenden Erlebnis für alle Anwesenden werden.

Für die Gestaltung eines Buches mit Interviews von Zeitzeugen aus Forst konnten 11 Forster Bürgerinnen und Bürger gewonnen und interviewt werden. Sie laden mit ihren ganz persönlichen Geschichten auf über 70 Seiten ein, sich zu erinnern. In der Zeit der Brüche und Umbrüche ging ja alles sehr schnell, kostete alles viel Kraft und es blieb kaum Gelegenheit, über eigene Befindlichkeiten zu reden.

Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterstützt. Alle „Engagierten Städte“ aus den neuen Bundesländern konnten sich um Fördermittel bewerben, um den 30. Jahrestag des Mauerfalls als Sternstunde des bürgerschaftlichen Engagements würdig zu begehen.

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