Selbstgetöpfertes Geschirr steht auf dem Tisch, bauchige Kaffeetassen, bunte Teller, das Weihnachtsgeschenk einer Freundin. Den Kuchen hat Sybille Kottwitz selbst gebacken, Puffer mit Schokotropfen, er thront in der Mitte des Tischs. Jetzt sitzt die 70-Jährige in ihrem Rollstuhl vor der Kaffeetafel und zählt nach. „Wir haben ein Gedeck zu wenig, Schatzilein!“, ruft sie laut durch die gläserne Durchreiche in ihre kleine Küche hinüber. Dort gießt Christin Reiche, groß, blond, Ende Dreißig, gerade den Kaffee auf. Sie wirft einen Blick auf den Tisch, dann antwortet sie Kottwitz gespielt schnippisch: „Na, Sybille, du musst schon richtig zählen!“
Es wirkt, als würden Christin Reiche und Sybille Kottwitz sich schon ewig kennen. Tatsächlich ist es erst drei Monate her, seit sie sich zum ersten Mal begegnet sind. Damals kam Reiche mit David Krause vom Rostocker Freizeitzentrum in Kottwitz` Zweizimmerwohnung im 8. Stock eines Hochhauses. Krause leitet beim Freizeitzentrum das Projekt „Alltagshilfe“. Er vermittelt ehrenamtliche Unterstützer:innen an Menschen, die ein bisschen Hilfe gut gebrauchen können. So wie Sybille Kottwitz, die seit einer Hirnblutung und einem leichten Schlaganfall vor fünf Jahren halbseitig gelähmt ist.
Was ihr fehlt, ist vor allem Gesellschaft. Jemand, mit dem sie mal ins Kino gehen kann oder der mit ihr ein Glas Wein auf dem Balkon trinkt. Dankbar ist sie auch für kleine praktische Hilfen, zum Beispiel ein Regal aufzubauen oder Orangen auf Vorrat zu schälen – die liebt Sybille Kottwitz, aber die linke Hand macht nicht mehr mit. Um Kino, Regal und Orangen kümmert sich seit Februar 2022 Christin Reiche, 39, bis vor kurzem Windparkplanerin, jetzt angehende Künstlerin, wie sie lachend sagt. „Als Christin nach unserem Kennenlern-Gespräch aufbrach, drehte sie sich an der Wohnungstür noch einmal um“, erinnert sich Kottwitz, „und rief mir zu: Ich komm` wieder!“
Ehrenamt ist der Kitt, der Gesellschaften zusammenhält, wie es so schön – und so wahr – heißt. Bürgerliches Engagement trägt Vieles, in guten wie in Krisenzeiten, im Normalbetrieb wie während einer Pandemie oder eines Kriegs. Knapp 40 Prozent der Deutschen tun regelmäßig unentgeltlich etwas für andere, das hat zuletzt 2019 eine Untersuchung des Bundesfamilienministeriums ergeben. Dennoch: Vielen Projekten, Vereinen und in zahlreichen Orten mangelt es an ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Vielerorts fehlen feste Strukturen wie zentrale Anlaufstellen und verlässliche Kooperationen zwischen den verschiedenen Akteuren. Menschen, die Zeit und Energie in ein Ehrenamt investieren wollen, brauchen klare, niedrigschwellige Informationen darüber, wo und wie sie helfen können. Nicht nur bezahlte Jobs sollten also professionell vermittelt werden, sondern auch Ehrenämter.
Das Label „Engagierte Stadt“ tragen inzwischen 100 deutsche Städte. Rostock, 208 000 Einwohner, Hanse-, Hafen- und Universitätsstadt an der Warnow, gehört seit 2021 dazu. Die Teilnahme an dem Engagement-Programm regte 2020 der damalige parteilose Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen an. Seitdem treiben in Rostock vor allem drei Partner den Aufbau einer zentralen Anlaufstelle für Ehrenamtliche voran: Anne Hammer vom 2020 gegründeten Amt für Sport, Vereine und Ehrenamt, Tobias Pollee, Ehrenamtskoordinator des Deutschen Roten Kreuzes Rostock sowie Melissa Herfort von der MitMachZentrale Rostock, einem Projekt des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Sport Mecklenburg-Vorpommern.
An einem sonnig-kühlen Tag sitzt Anne Hammer, 36, Rostockerin durch und durch, auf einem Mäuerchen im Stadthafen. Hinter ihr liegt die Haedgehalbinsel mit dem schmucken alten Brückenkran, Industrieromantik pur. Vor Hammer breitet sich das Panorama der Altstadtkirchen, Stadttore und Speichergebäude aus. Ihre Heimatstadt beschreibt sie als „erfrischend“ und „sportlich“. Seit zehn Jahren arbeitet Hammer in der Stadtverwaltung, war lange für das Thema Wahlen zuständig, seit zwei Jahren nun fürs Ehrenamt. Mit diesem Thema stand sie zunächst alleine da, dann setzte sie sich mit Melissa Herfort und Tobias Pollee an einen Tisch. „Wir stellten fest, dass jeder für sich, aber an denselben Fragen arbeitete“, sagt Hammer. Pollee ergänzt: „Jetzt versammeln wir uns unter dem Dach der Engagierten Stadt, das gibt uns ein gemeinsames Label und irgendwie auch eine Legitimation gegenüber unseren Arbeitgebern.“
Auch auf Vereinsebene machte in Rostock bis zum vergangenen Jahr jeder sein eigenes Ding. Die Stadt zählt 1500 Vereine – aber ihnen fehlte eine übergeordnete Anlaufstelle für Freiwillige. „Man verliert viele potentielle Ehrenamtliche, wenn sie bei einem Verein anrufen und zu hören bekommen: Vielen Dank, aber wir haben gerade keinen Bedarf“, sagt Tobias Pollee. Deshalb war das erste Ziel für Rostock auf dem Weg zur engagierten Stadt eine eigene Homepage für das Thema Ehrenamt. Inklusive einer Datenbank für die Gesuche von Vereinen. „So stoßen Hilfsbereite auf eine ganze Palette von Einsatzmöglichkeiten“, sagt Anne Hammer. Für die Gestaltung einer neuen Website fehlte allerdings das Geld. Notgedrungen setzte sie sich selbst an die Arbeit.
Seit September 2021 ist das Ergebnis online. Auf Engagiertes-Rostock.de stellen momentan rund 30 Vereine ihre Anzeigen ein. Zum Beispiel das Frauenhaus Rostock, das ehrenamtliche Übungsleiter:innen für ein lockeres Bewegungsangebot sucht. Die Alzheimer Gesellschaft, die eine:n Kassenprüfer:in braucht. Dem Interkulturellen Treff fehlen Pat:innen oder die Rostocker Heimstiftung Zeitspender:innen. Jede der aktuell 100 Annoncen gibt Antworten auf die häufigsten Fragen: Wie oft sollte ich mir Zeit nehmen? Brauche ich einen Führerschein oder ein Führungszeugnis? Was genau sind meine Aufgaben? Und: Wofür sorgt mein Träger?
Auch Christin Reiche klickte vor ein paar Monaten die Einträge der Vereine durch. Bei der Alltagshilfe des Rostocker Freizeitzentrums blieb sie hängen. „Das ist im Prinzip das, was ich auch für meine Oma getan habe“, sagt sie. „Ich dachte mir: Das bekommst du gut hin.“ Fragt man Reiche, warum sie nach einem Ehrenamt suchte, spricht sie von dem Bedürfnis, etwas zurückzugeben. „Mir geht es gut im Leben. Und ich finde, Menschlichkeit kann man nur erwarten, wenn man sie auch selbst zeigt.“ Ihre Mail landete im Posteingang von Anne Hammer, sie brachte Reiche in Kontakt mit Alltagshilfe-Projektleiter David Krause. Er hatte sofort das Gefühl, Frau Kottwitz und Frau Reiche würden gut zusammenpassen.
Das Thema Ehrenamt hat im Leben von Sybille Kottwitz immer schon eine Rolle gespielt. Gelernt hat sie Sekretärin, gearbeitet aber in den unterschiedlichsten Branchen: beim Militär, in einer HO-Gaststätte, für die Ostseezeitung und die Obdachenhilfe. In ihrer Freizeit bot Kottwitz Anderen ehrenamtliche Unterstützung an – in dem Freizeitzentrum, das ihr heute Christin Reiche schickt. Weil es in der Nähe ihrer alten Wohnung lag, hatte sie dort vor vielen Jahren „mal den Kopf in die Tür gesteckt“. Und gefragt: „Kann ich bei euch etwas helfen?“ Konnte sie. Und so bastelte Kottwitz mit Kindern, kochte im Café, spielte den Weihnachtsmann. Später übernahm sie für andere Träger Patenschaften für Studenten aus dem Ausland, übte Deutsch mit syrischen Geflüchteten.
Heute sitzt sie mit einer „sehr mauen“ Rente da. Kottwitz hat zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn, aber sie haben kaum Kontakt. Eine Freundin setzte Kottwitz bei David Krause auf die Warteliste für eine Alltagshilfe. Krause verspricht sich viel von der neuen Ehrenamts-Homepage der Stadt: „Uns fehlen die Freiwilligen. Sie kommen nicht einfach vorbei, wie früher Sybille Kottwitz.“ Krause hat kürzlich 4000 Flyer verteilt – aber jüngere Menschen wollen sich digital informieren. Anne Hammer verschickt inzwischen regelmäßig einen Newsletter an 300 Vereine, darin auch viele Weiterbildungsangebote. „Die Suche nach neuen Freiwilligen erfolgreich zu gestalten, ist aber nicht die einzige Herausforderung“, sagt ihr Kollege Tobias Pollee. „Wenn man Ehrenamtliche gewonnen hat, müssen sie auch bleiben wollen. Ich wünsche mir, dass wir in Rostock gemeinsam daran arbeiten, dass ehrenamtliches Engagement in den einzelnen Organisationen attraktiv ist und bleibt.“
Langsam entsteht in Rostock ein Netzwerk über Vereinsgrenzen hinweg. Doch eine echte Ehrenamts-Stadt zu werden, dauert. Es braucht hauptamtliche Strukturen wie die Stellen von Hammer und Pollee. Und den Austausch mit anderen Städten, die sich ebenfalls auf den Weg gemacht haben. Das Programm „Engagierte Stadt“ vermittelt Neuzugängen eine erfahrene Kommune als Tandem-Partner:in. Stellt ein Netzwerk für den Wissensaustausch zur Verfügung. Und bietet regelmäßige digitale wie analoge Runden: alle zwei Monate einen Stammtisch, alle sechs Monate ein Treffen. Anne Hammer will noch engere Kontakte zu anderen Städten knüpfen. „Wo es interessante Konzepte gibt, werden wir uns melden – und unterstützen auch gern andere.“
Inzwischen ist es Nachmittag geworden, Zeit für die letzte Station, den Rostocker Stadthafen. Dort liegt ein Segelschiff vertäut, das dem Thema Ehrenamt noch einmal eine ganz andere Dimension verleiht. Die Santa Barbara Anna – 43 Meter lang, sieben Meter breit, 13 Segel – ist ein so genannter Dreimast-Toppsegelschoner. Sein Rumpf ist der eines früheren Hochsee-Trawlers, der Fisch in den Gewässern rund um Island fing. Später bewachte die Crew Ölplattformen in der Nordsee. Die Besitzer wechselten. 1984 schließlich wurde das Schiff von zwei britischen Marine-Ingenieuren zum Segel-Schoner für Tagestouristen umgebaut.
Doch der Plan ging nicht auf – und so kaufte 1993 Joseph Maria Kelly das Boot; ja, gemeint ist Joey Kelly, Sohn der irischstämmigen Großfamilie, die als The Kelly Family mit Folk-Songs durch Europa tourte. Joey ließ das in die Jahre gekommene Schiff restaurieren, mehr Schlafkojen einbauen und taufte es „Santa Barbara Anna“, zu Ehren seiner früh verstorbenen Mutter. Er wollte das Segelboot als schwimmende Unterkunft und Urlaubsdomizil für seine Familie nutzen, aber die vielen Auftritte ließen keine Zeit für ein aufwändiges Hobby wie einen Dreimaster mit historischer Takelage.
Auch heute gehört die Santa Barbara Joey Kelly. Ihr Unterhalt verschlingt jeden Monat 4000 Euro, die Reparaturen für den TÜV im vergangenen Jahr kosteten weit über 100 000 Euro. Diese Summen muss allerdings nicht Kelly überweisen, sondern sie stammen zu 100 Prozent aus ehrenamtlichem Einsatz: Der Rostocker Verein Bramschot e.V. pflegt und bewegt die Santa Barbara. Klaus Apel, der Vorstand, freut sich über die Leihgabe, die so viel Arbeit macht. „Eine Win-Win-Situation“ sagt er. Apel, 68, sitzt entspannt am Tisch in der Offiziersmesse, einen Kaffee im metallenen Isolierbecher vor sich. Er arbeitete als Seeoffizier bei der Volksmarine, später studierte er Sozialpädagogik und leitete eine Rostocker Jugendeinrichtung. Nach seiner Pensionierung hörte Apel von der Santa Barbara – und bekam Sehnsucht, wieder aufs Meer zu fahren.
Als Verein hat Bramschot ein Ziel: Jungen Menschen die Traditionsschifffahrt nahe zu bringen. Apel schaut hinauf zum Großmast der Santa Barbara und sagt stolz: „Unsere Segel sind genauso wie vor 500 Jahren bei den Wikingern.“ Regelmäßig kommen Schulklassen und Jugendgruppen für Tagestörns an Bord. Chartern können das Schiff aber auch Einzelpersonen, Familien, Vereine oder Unternehmen – ein Tagesausflug kostet 2300 Euro. Im Angebot sind auch längere Fahrten, dann wird in den für die Kellys gebauten Kojen geschlafen und in der Bordküche gekocht.
Die Saison auf der Santa Barbara Anna dauert von Mai bis Ende Oktober – in diesen Monaten muss das gesamte Geld für den Unterhalt des Schiffs verdient werden. Das erfordert mindestens zwei bis drei bezahlte Törns pro Woche – und zwischen 11 und 13 ehrenamtliche Crewmitglieder für jede Fahrt, vom Matrosen bis zum Steuermann. Wie bekommt man so viele Leute verlässlich zusammen? „Klappt eigentlich immer“, sagt Klaus Apel mit einem breiten Lachen. „Die meisten von uns sind pensioniert, und das Schiff fasziniert sie.“ Auch in den Wintermonaten arbeiten viele der 127 Vereinsmitglieder auf dem Schiff. „Der Rost frisst sich schneller durch, als man schauen kann“, sagt Apel. „Würden wir ein halbes Jahr nichts machen, könnte man die Santa Barbara gleich versenken.“
Dem Reparaturbedarf an Bord stellt sich seit einigen Monaten auch Marina Klossowski entgegen, 62, Metallschlosserin im Vorruhestand. Sie trägt feste Arbeitskleidung und führt stolz in den Maschinenraum. „Ich liebe den Geruch hier“, sagt sie. 25 Jahre lang hat Klossowski für die Rostocker Neptun Werft gearbeitet, bis Schulter und Knie nicht mehr mitmachten. Dann saß sie plötzlich zuhause, invalide und mit einer kleinen Rente. „Ich kam mir vor wie ein Mensch zweiter Klasse“, sagt sie. „Und konnte mir nicht vorstellen, den ganzen Tag vom Fenster aus die Straße zu beobachten.“
Ein Ehrenamt? Marina Klossowski wusste nicht, wo sie sich einbringen könnte. Tobias Pollee schlug ihr ein Beratungsgespräch vor. Er fragte nach Kosslowskis Wünschen, ging einige Ideen mit ihr durch. Dann fiel ihm die Santa Barbara Anna ein. Die Ehrenamtlichen bei Bramschot, die nach dem Motto leben: An Bord sind alle gleich wichtig. „Tobias hat großes Fingerspitzengefühl bei der Vermittlung“, sagt Anne Hammer, seine Kollegin von der Stadtverwaltung. Und so schlug Pollee Marina Klossowksi vor, sich doch einmal beim Vorstand vorzustellen.
Der Rest ist Geschichte. Eine schöne Geschichte. Zwei Mal pro Woche schlüpft Klossowski seitdem wieder in ihre Arbeitsmontur. Dann geht sie zum Stadthafen, läuft über den schmalen Steg auf sie Santa Barbara. Sie schweißt und repariert, erneuert und ersetzt. In wenigen Wochen startet die Saison, dann muss das Schiff seeklar sein. Marina Klossowski ist bislang noch keinen Meter mit der Santa Barbara Anna gefahren, und sie weiß auch gar nicht, ob sie das überhaupt will. Was sie will ist: weiter auf diesem Schoner arbeiten, mit dieser Crew. „Hier bin ich keine Bittstellerin, wie so oft an Land.“ Sie lehnt sich zurück auf der Eckbank in der Offiziersmesse. Und sagt dann leise: „Hier bin ich wieder ich.“
Ein Text von Christiane Langrock-Kögel.