„Eine engagierte Stadt kann man nicht sehen“, sagt Karin Buchner, wenn sie nach konkreten Ergebnissen gefragt wird. „Engagierte Stadt“, das sei vielmehr eine Haltung, sagt sie. Buchner ist Mitte Fünfzig, eine schlanke Frau mit silbrig-grauer Stoppelfrisur, einer rauchigen Stimme und einer herzlichen Art. Sie ist Leiterin des Freiwilligenzentrums Mittelhessen, eines Vereins, der ehrenamtliches Engagement in der Region koordiniert. Er hatte sich als Träger für das Programm „engagierte Stadt“ beworben. Wetzlar wurde 2015 als eine der ersten 50 Städte für das bundesweite Netzwerk ausgewählt. Buchner fungiert seitdem als Koordinatorin.
Als sie vor fast genau sechs Jahren zur Auftaktveranstaltung einlud, blickte sie in viele fragende Gesichter. Georg Weidmann, der für das kommunale Jobcenter des Lahn-Dill-Kreises arbeitet, erinnert sich: „Ich dachte mir, das klingt ja ganz interessant, mal schauen, was das ist. Aber ich konnte mir absolut nichts darunter vorstellen.“ Andere fragten sich, warum sie denn die Arbeit machen sollten, wenn das Freiwilligenzentrum doch das Projektgeld bekam, erzählt Buchner. Inzwischen wüssten sie aber, dass die Zusammenarbeit allen zugute kommt und das Freiwilligenzentrum nur die Mittlerrolle einnimmt.
Vielschichtige Stadt
Wetzlar ist mit rund 54.000 Einwohner zwar nur eine mittelgroße, aber dennoch sehr vielschichtige Stadt und von der Geographie weit auseinander gezogen. Im Süden liegt die Altstadt, die sich einen steilen Hügel hinaufzieht: Kopfsteinpflaster, adrett restaurierte Gebäude aus dem frühen Mittelalter, teils mit Fachwerk und Holzgiebeln. In den engen Gassen finden Touristen an jeder Biegung pittoreske Fotomotive. Im Norden liegt die Bahnhofsgegend, die genauso daher kommt wie viele solcher Viertel in Deutschland: Verwaltungsgebäude und Wohnblocks aus den 60er Jahren, viele Discounter und Schnellimbisse und hier und da ein paar Gestalten, denen man lieber nicht im Dunkeln begegnen möchte. Dazwischen aber auch ein schickes Neubaugebiet direkt am Flussufer, sowie die städtische Bibliothek. Die Verbindungslinien zwischen diesen Stadtteilen sind auf der einen Seite die Lahn mit ihrer großzügigen grünen Uferpromenade und stadteinwärts die Langgasse mit ihren alteingesessenen Einzelhandelsgeschäften.
Auf einem weiteren Hügel im Süden der Stadt thront der futuristisch anmutende Firmenkomplex des Kameraherstellers Leica, umgeben von Gewerbe und beschaulichen Wohngebieten. Unweit davon finden sich die Büros der Lokalzeitung. In ihren Räumen ist auch das Freiwilligenzentrum untergebracht.
Wetzlar habe einige Vorteile, sagt Manfred Wagner, der Oberbürgermeister: „Es ist so groß, dass im Vergleich zu kleineren Kommunen mehr möglich ist, andererseits ist es so klein, dass man sich kennt.“ Das mache das Engagement leichter. „Bei uns haben sich schon immer viele Menschen ehrenamtlich engagiert“, sagt Wagner. Er selbst bewies Zivilcourage und sorgte für Schlagzeilen, als er 2018 der NPD untersagte, die Stadthalle für eine Wahlkampfveranstaltung anzumieten, obwohl das Bundesverfassungsgericht zuvor anders entschieden hatte.
Der weitläufigen Geographie Wetzlars entsprechend sind die sozialen und kulturellen Einrichtungen weit über die Stadt verteilt. Als das Projekt „engagierte Stadt“ begann, sollte dieses Engagement für die breitere Bevölkerung sichtbarer werden, und so organisierte der Arbeitskreis als eine seiner ersten Aktionen geführte Stadtspaziergänge, bei denen die Bürger*innen die einzelnen Organisationen, Projekte, Vereine und Gruppen, die vom Ehrenamt leben, kennenlernen konnten.
Der Blick weitet sich
Teil des Netzwerks sind aber auch Unternehmen und Vertreter städtischer und kommunaler Stellen, wie zum Beispiel das kommunale Jobcenter. Anfangs habe er sich gefragt, was die Treffen für sein Jobcenter bringen, erinnert sich Georg Weidmann, denn zunächst gab es bei den Themen nur wenige konkrete Berührungspunkte mit seiner Arbeit, zum Beispiel als zu Anfang das ehrenamtliche Engagement als gemeinsames Thema im Fokus stand. Denn Auftrag des Jobcenters ist ja eigentlich die Integration in den normalen Arbeitsmarkt. Aber mit der Zeit merkte Weidmann, wie sich etwas veränderte, erzählt er. Der Blick öffnete sich auf Dinge, die er vorher gar nicht wahrgenommen habe. „Ein Ehrenamt zum Beispiel kann auch für Langzeitarbeitslose eine super Sache sein, weil sie so Netzwerke bauen und sich Fähigkeiten aneignen können. Und vielleicht findet mancher darüber sogar einen regulären Job,“ sagt Weidmann. „Dieser Gedanke musste erst einmal in den Kopf hinein. Ohne den Arbeitskreis wären wir als Jobcenter darauf gar nicht gekommen, denn als Profi agiert man eher zielgerichtet.“
Am Ende wurde das Jobcenter sogar selbst ehrenamtlich aktiv, erzählt er. An einem Samstagnachmittag fand sich Weidmann mit anderen Jobcentermitarbeiter*innen im Garten der Caritas-Kita wieder, um einen Geräteschuppen zu bauen. Zum Tag des Ehrenamts hatten Vereine und Wohlfahrtsverbände Firmen dazu aufgerufen, bei ihnen mitzuhelfen. Weidmann sagte zu, obwohl eine Behörde wie die seine gar nicht die eigentliche Zielgruppe der Aktion war. „Wir hätten ohne den Arbeitskreis wahrscheinlich nicht einmal von dieser Aktion erfahren,“ sagt er.
Auch die Art, wie man mit bestehenden Partnern interagiert, verändert sich durch den Arbeitskreis „Enagierte Stadt“, sagen Weidmann und Stefan Lerach, Geschäftsführer der Wetzlaer Arbeitsloseninitiative, kurz WaLi. Die WaLi ist eine soziale Organisation, die sich um Langzeitarbeitslose kümmert, ihnen Beratung anbietet, 1-Euro-Jobs und Weiterbildung vermittelt und Suchtkranken Therapien und Klinikaufenthalte ermöglicht.
Das kommunale Jobcenter vermittelt Menschen dorthin, für die die Behörde Maßnahmen zur Integration in der Arbeitsmarkt vorgesehen hat. Das heißt, man arbeitet normalerweise auf rein professioneller Ebene zusammen, und dabei gibt es auch um Reibungspunkte, denn die WaLi hat in erster Linie die Bedürfnisse der Betroffenen im Blick, während das Jobcenter einen gesetzlichen Auftrag erfüllen muss. Im Arbeitskreis treffen die Teilnehmenden aber nicht so sehr in ihrer Rolle als Vetreter*in einer Organisation, Behörde oder Interessensgruppe aufeinander. „Man lässt dieses Mäntelchen quasi vor der Tür und trifft sich auf einer anderen Ebene“, so beschreibt es Karin Buchner.
Zusammenarbeit jenseits von Rollen
„Man entwickelt ein besseres Verständnis für die Sicht und die Bedürfnisse der anderen“, ergänzt Stefan Lerach. Und so manches lasse sich auch einmal auf dem kleinen Dienstweg klären, weil man sich über den Arbeitskreis kennt und ein Vertrauensverhältnis zueinander aufgebaut hat. Auch bestimmte Vorurteile, die gegenüber manchen gesellschaftlichen Akteuren bestehen, lassen sich so abbauen. Beispielsweise sehen sich sowohl die WaLI als auch das Jobcenter in der breiteren Gesellschaft mit gewissen negativen Wahrnehmungen konfrontiert, sagen sowohl Weidmann als auch Lerach. „Durch den direkten Kontakt im Arbeitskreis ist die Wahrnehmung bei vielen eine andere geworden“, erklärt Lerach.
Alle, die bei dem Arbeitskreis teilnehmen, kommen dorthin zunächst einmal als Menschen, die bestimmte Erfahrungen und Fähigkeiten mitbringen. Ein gutes Beispiel dafür ist Stefan Wagner. Der Mitte Vierzigjährige arbeitet ebenfalls für die WaLi und nimmt auch regelmäßig am Arbeitskreis „engagierte Stadt“ teil. Wagner hat vor einigen Jahren einen beruflichen und persönlichen Absturz erlebt. Er war LKW-Fahrer und kam irgendwann mit dem immensen Druck in seinem Job nicht mehr zurecht, puschte sich mit Amphetaminen, konsumierte Cannabis, um wieder runterzukommen. Durch eine Umstrukturierung verlor er seinen Job und rutschte in die Langzeitarbeitslosigkeit und Sucht. Nach Therapien und Klinikaufenthalten fand er über die WaLi zurück ins Leben. Heute ist er dort angestellt, betreut Betroffene und leitet Selbsthilfegruppen. Daneben studiert er soziale Arbeit. Er kann im Arbeitskreis die Perspektive von Betroffenen einbringen, beispielsweise beim aktuellen Jahresthema „Leben mit wenig Geld“. „Ich kann durch meine eigenen Erfahrungen und auch durch die Erfahrungen, die ich täglich mit solchen Menschen mache, ein anderes Bewusstsein für die Betroffenen einbringen, als ein Profi, der immer eine gewisse Distanz wahren muss“, erklärt Wagner. Das öffne für die anderen Teilnehmer*innen des Arbeitskreises den Blick auf das Thema.
Ein pulsierendes Netz
Das, was die Teilnehmenden daran schätzen, Teil einer „engagierten Stadt“ zu sein, ist schwer in Worte zu fassen. „Wir brennen dafür, wir können uns nichts anderes mehr vorstellen“, sagt Karin Buchner. „Das ist für Außenstehende schwer zu begreifen. Wir werden immer ratlos angeschaut, wenn wir erzählen: „Das sind so schöne Runden.“
Vielleicht lässt sich die Wirkung der engagierten Stadt am besten mit einem Bild beschreiben. Jeder Verein, jede Organisation, jedes Unternehmen und jede Stelle in der Verwaltung hat ihren eigenen Wirkungskreis. Und durch die Zusammenarbeit über den AK „engagierte Stadt“ haben diese Kreise begonnen, sich mehr und mehr zu überlappen und zu verzahnen, so dass am Ende ein dicht miteinander verwobenes Netz entstanden ist, das pulsiert und lebt, und in dem ständig ein Impuls zum nächsten führt.
Dementsprechend funktionieren auch die Treffen des Arbeitskreises. Am Anfang steht immer eine Vorstellungsrunde. Zwar kennen sich die meisten Akteure inzwischen, aber es stoßen immer wieder auch neue hinzu, die man über diese Vorstellungsrunden gleich ins Bild setzen kann, wer was macht in der Stadt. Aus diesen Themen, an denen die einzelnen Akteure gerade arbeiten, ergeben sich dann die Impulse für die weitere Diskussion bei den Treffen. Wichtig ist, dass keine Agenda vorgegeben wird. „Da gibt es zwar immer jene, die mal einen Ball ins Wasser werfen und schauen was passiert“, sagt Karin Buchner und beschreibt damit auch ihre eigene Rolle. „Aber alles weitere ergibt sich aus dem Arbeitskreis heraus.“ Manche Ideen würden aufgenommen, andere transformiert oder verworfen. Dass alle auf Augenhöhe zusammenarbeiten und alles transparent kommuniziert wird, ist ihr besonders wichtig. Daher hatte Buchner die ersten Treffen mithilfe einer externen Moderatorin vorbereitet, um den Eindruck zu vermeiden, das Freiwilligenzentrum habe die Leitung inne. Zu jedem Treffen gibt es zudem ein ausführliches Protokoll, damit auch jene, die nicht teilgenommen haben, im Bilde sind.
Motto 2022: „Leben mit wenig Geld“
Rund 250 Organisationen, Vereine, Initiativen und Einzelpersonen gehören dem Arbeitskreis inzwischen an. Das reicht von Sportvereinen über caritative Verbände bis zu sozialen und religiösen Organisationen oder städtischen und kommunalen Akteuren. Auch einige Unternehmen engagieren sich. Etwa 25 bis 40 Vertreter*innen kommen regelmäßig zu den Treffen. Bei den anderen fluktuiert es und kommt darauf an, welches Thema gerade im Fokus steht. In diesem Jahr ist es „Leben mit wenig Geld“. Es betrifft breite Teile der Bevölkerung: Hartz-4-Empfänger*innen, Geringverdiener, Alleinerziehende, alte Menschen, Geflüchtete und im Zuge von Corona und der sich nun abzeichnenden wirtschaftlichen Krise im Zuge des Ukrainekriegs auch mehr und mehr Menschen, die sich eigentlich in der Mittelschicht verorten. Und es ergeben sich Schnittmengen mit anderen wichtigen Themen in der Stadt. Wetzlar ist eine alte Industriestadt im Strukturwandel. Die Umbrüche haben viele soziale Verwerfungen mit sich gebracht. Wetzlar ist Spitzenreiter bei den Sozialleistungen in Hessen. Auch ist der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund sehr hoch. Und in der Region sind rechtsextreme Kräfte recht stark, die NPD saß bis zu den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr in Fraktionsstärke im Stadtparlament. All dies hängt auch mit finanziellen Nöten zusammen.
Dem Arbeitskreis ist es wichtig, dass die Jahresmotti möglichst offen gehalten sind, damit sich möglichst viele Menschen davon angesprochen fühlen. Konkrete Aktionen für dieses Jahr sind noch in der Planung. Ideen reichen von niederschwelligen Angeboten wie einer Bodenzeitung zum Beispiel in der Fußgängerzone, auf der alle Bürger*innen aufschreiben können, was Leben mit wenig Geld für sie bedeutet, bis zu einer Fachkonferenz zu dem Thema.
Möglichst breite Jahresthemen
Mit Querschnittsthemen, zu denen viele etwas zu sagen haben, habe der Arbeitskreis sehr gute Erfahrungen gemacht, erzählt Karin Buchner. Zum Beispiel bei dem Thema „Leben in Vielfalt“, dem Jahresthema von 2019. Vielfalt erstreckt sich auf all die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten, die es in der Stadt gibt. So umfasst es kulturelle Vielfalt, ebenso wie Vielfalt in Bezug auf soziale Klassen, Altersgruppen oder Arbeitssituationen.
Symbol für die Vielfalt von Wetzlar sind die „bunten Stühle“, die immer noch in der ganzen Stadt verteilt stehen: farbige Holzstühle, die zum Verweilen einladen, liebevoll bemalt von Schulen, Kitas und Akteuren der Zivilgesellschaft.
Herzstück des Jahresthemas war eine Charta der Vielfalt, die der Arbeitskreis erarbeitete und die dann im Stadtparlament diskutiert und verabschiedet wurde. „Das war ein Meilenstein“, erzählt Karin Buchner, angesichts der Tatsache, dass damals nicht nur die Rechtsextremen dagegen stimmten, sondern sogar Vertreter der CDU-Opposition querschossen, um sich zu profilieren. „Das hat uns aber noch mehr Aufmerksamkeit verschafft, dadurch, dass das Thema etwa eine Woche lang durch die Presse ging“, sagt Buchner.
Der Arbeitskreis organisierte zudem eine Konferenz zum Thema Vielfalt im Rathaus, bei der alle Bürgerinnen und Bürger die Charta ebenfalls unterschreiben konnten. Wichtig war dem AK dabei, dass wirklich alle in Wetzlar sich angesprochen und eingeladen fühlten, so Buchner: „Da kamen nicht nur die üblichen Verdächtigen, sondern da saßen auch der Langzeitarbeitslose mit dem Chef von Bosch an einem Biertisch zusammen.“
Nach Corona
„Danach herrschte Aufbruchstimmung“, erzählt Stefan Lerach. „Die beiden folgenden Netzwerktreffen waren brechend voll“, erinnert sich auch Georg Weidmann. Doch dann kam Corona und das Momentum wurde etwas ausgebremst. Veranstaltungen und Aktionen waren nicht mehr möglich. Der Arbeitskreis verlagerte sich wie so Vieles ins Internet. „Gücklicherweise ist unsere Koordinatorin sehr technikaffin“, sagt Lerach mit einem Blick auf Buchner, die die AK-Treffen künftig über Zoom organisierte.
Für die Zukunft hofft Oberbürgermeister Manfred Wagner, dass die bereits etablierten Strukturen weiter ausgebaut und erhalten werden können. „Nach zwei Jahren Pandemie möchten wir die Stadt wieder erlebbar machen“, sagt er. Neue Herausforderungen stehen an, wie die Vorbereitung zu den Special Olympics für Menschen mit geistiger Behinderung, die Deutschland in 2023 in Berlin ausrichtet. Wetzlar ist eine der Host-Towns, die die internationalen Delegationen empfangen.
Aber auch schwierige gesamtgesellschaftliche Probleme, gilt es zu bewältigen. Angesichts von gesellschaftlicher Spaltung durch Corona, aber auch angesichts neuer Herausforderungen wie der Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine, sei die zentrale Frage: „Wie halten wir als Stadtgesellschaft zusammen?“, sagt Wagner. Die etablierten Netzwerke der „engagierten Stadt“ werden sicherlich als Kitt wirken.
Ein Text von Nicole Graaf.