Die Stadt Schwerte im Ruhrgebiet, malerisch an der Ruhr gelegen, ist ein Vorbild für Bürgerengagement. Seit 2015 ist sie Teil der Engagierten Städte Deutschlands und baut seitdem ihr Netzwerk immer weiter aus. Immer mehr neue Initiativen entstehen. Was ist das Erfolgsgeheimnis Schwertes?
Ein Februarmorgen in der Friedrich-Kayser-Grundschule in Schwerte. Alle Schüler*innen aus den Klassen 1-4 haben sich in der Aula versammelt, insgesamt knapp 177 Kinder. Rund dreißig von ihnen sprechen zu Hause Deutsch als Muttersprache. Die Grundschule hat mit 90 % stadtweit den höchsten Anteil an Schüler*innen mit Migrationshintergrund. Sie alle sollen durch das Projekt erleben, wie lebendige Demokratie funktioniert.
Die Kinder wibbeln auf Stühlen oder hocken im Schneidersitz auf Sitzkissen – die Stimmung ist fröhlich. Die Lehrer*innen formen ein Fuchs-Symbol mit ihren Händen, die Kinder verstehen die Geste sofort: Sie bedeutet „Ruhe bitte“.
Zwei Schülervertreter*innen begrüßen Anke Skupin, kommunale Mitarbeiterin und Tim Frommeyer, den Ersten Beigeordneten der Stadt Schwerte, auf der Bühne. Sie stellen heute das Projekt “Schüler*innenhaushalt“ vor. Skupin, wilde Locken, Blümchenbluse, stellt sich vor und richtet sich an die Kinder: „Wisst ihr auch weshalb ihr heute hier seid?“ Die Kinder jubeln. „Eure Schule bekommt Geld zur Verfügung gestellt und ihr könnt euch überlegen, wofür ihr es ausgeben könnt“. Der Jubel wird lauter. „Habt ihr schon Ideen?“
Die Kleinsten lernen wie Demokratie funktioniert
Für den „Schüler*innenhaushalt“, einem Projekt an Schwerter Grundschulen, spenden Wirtschaft und Stadt pro Schule 1000 Euro. Mit dieser Summe können Neuanschaffungen getätigt werden – nach einer demokratischen Abstimmung über die einzelnen Vorschläge. Jede Klasse entscheidet sich für einen Herzenswunsch und erstellt ein Wahlplakat. Wochen später wird gewählt. Wie bei einer echten Wahl gibt es ein Wählerverzeichnis und Wahlurnen. Die Grundidee: Jede Stimme zählt. So sollen auch die Kleinsten in kürzester Zeit lernen, wie Demokratie funktioniert.
Die Zeigefinger schießen pausenlos in die Höhe: Ein Trampolin, eine Rutsche, ein Baumhaus – die Ideen-Vielfalt ist groß. Die Kinder haben viele Fragen: Woher kriegen wir das Geld? Dürfen wir uns selbst wählen? Was passiert mit übrig gebliebenem Geld? Wann und wo kommt das Geld an? Anke Skupin findet auf jede Frage eine Antwort. Sie hat das Projekt Schüler*innenhaushalt bereits an anderen Schwerter Grundschulen begleitet, und ist jedes Mal verblüfft, wie selbstständig die Kinder sind. „Selbst die Kleinsten verstehen in kürzester Zeit wie Demokratie und Wahlen funktionieren.“ Sie berichtet, dass Kinder an anderen Schwerter Grundschulen selbst krank zur Schule kamen oder gar ihre Eltern zum Wählen vorbei schickten – nur um ihre Stimme abzugeben. Damit jedes Kind einmal in seiner Grundschulzeit an diesem Projekt teilnehmen darf, findet der Schüler*innenhaushalt an jeder Schule alle vier Jahre statt. Engagement, das bereits bei den Kleinsten ansetzt.
Vielfältige Engagementlandschaft
2015 wurde Schwerte offiziell zur Engagierten Stadt ernannt. Doch nicht erst seitdem engagieren sich die Bürger*innen in ihrer Stadt. Schwerte hat es sich zum Ziel gesetzt, das Engagement Einzelner zu einer Verantwortungsgemeinschaft vor Ort verschmelzen zu lassen.
Die ehrenamtlichen Initiativen in Schwerte sind vielfältig. Um nur wenige Beispiele zu nennen: Der Arbeitskreis Asyl setzt sich für Geflüchtete ein und organisiert Stadtführungen für sie, im Frühjahr wird die Stadt bei der Aktion „Schwerte putzt munter“ gemeinschaftlich vom Müll gesäubert und der „Ruhrtaler“ soll als Stadtwährung bei Stadtfesten das Geld vor Ort halten.
Begegnungsort am Markt
Im Büro der MitMachStadt Schwerte, zentral am Marktplatz gelegen, treffen sich fünf engagierte Schwerter Bürger*innen um über die Engagementlandschaft in ihrer Stadt zu diskutieren. Im Raum steht die Frage, welche Faktoren das Gelingen der „Engagierten Stadt“ Schwerte begünstigen – und wo eventuell noch Handlungsbedarf besteht.
Anke Skupin nennt sich selbst „Schwerte-verliebt“ und fügt, nicht ohne Stolz, hinzu: „Bei uns gibt es schon sehr viel Engagement“. Ihr Kollege Christopher Wartenberg, Ehrenamtskoordinator der Stadt Schwerte, erklärt, dass das Engagement der Schwerter nicht nur auf die jahrhundertealten Verbindungen zwischen den einzelnen Stadtbezirken – den Schichten – zurückzuführen sei.
Mitte der 1990er Jahre, erzählt er, habe es im Schwerter Ortsteil Ergste das erste erfolgreiche Bürgerbegehren in Nordrhein-Westfalen gegeben. Damals setzten sich engagierte Bürger*innen für eine Wiedereröffnung des Elsebads ein – mit Erfolg. Heute wird es von Ehrenamtlichen allein betrieben.
Gleichberechtigte Akteure
Jochen Born, ehemaliger Leiter der Volkshochschule Schwerte, sieht den maßgeblichen Erfolg der Engagementlandschaft Schwertes darin begründet, dass keiner der beteiligten Akteure aus Stadt, Politik, Wirtschaft und Kirche versuche, zu dominieren. „Wenn eine der Stellen das Bürgerengagement an sich zieht, würde sie die Bürger lähmen und verhindern.“
Für Anke Skupin ist ein weiterer Gelingensfaktor klar: „Es ist viel klüger, die Menschen vorher mitzunehmen und zu gucken, was ihre Bedürfnisse sind.“ Das Büro am Markt sei dafür eine ideale Anlaufstelle und die personelle Ausstattung gut. „Es ist ein Ort wo Schwerter Bürgerinnen und Bürger ihr Herz ausschütten können.“ Mit einem kleinen Manko: Trotz zentraler Lage ist das Büro von außen für Nichteingeweihte auf den ersten Blick nicht als Bürger-Treffpunkt zu erkennen. Ein Punkt, an dem aktuell gearbeitet wird.
Leitlinien für das Miteinander
Die zentrale Frage ist: Wie kriegt eine Stadt ihre Bürger*innen dazu, sich zu engagieren? Und wie holt man die unterschiedlichen Akteure in ein Boot?
Um die Zusammenarbeit zu verbessern, führte Schwerte 2019 „Leitlinien“ für das Miteinander ein. Darüber hinaus wurde ein Gremium, bestehend aus 21 wechselnden Mitgliedern aus Stadt, Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Engagierter Bürgerschaft, Jugendvertretung und per Zufall ausgewählten Einwohnern, zusammengesetzt. Es soll einen kontinuierlichen Diskurs über die Herausforderungen und Aufgaben in Schwerte ermöglichen und hat die Rolle zu bewahren und weiterzuentwickeln, was bereits erarbeitet worden ist. Sehr hilfreich war zu Beginn die externe Moderation der Stiftung Mitarbeit, die den Arbeitsprozess begleitet hat.
Augenhöhe steht an erster Stelle
Alle Anwesenden betonen, wie wichtig die Kommunikation auf Augenhöhe zwischen den unterschiedlichen Akteuren ist. Anke Skupin gibt ein Beispiel: Während einer Zusammenkunft sprach sie von der Entwicklungsgruppe, die die Leitlinien und das Gremium mitentwickelt hatte als „Lenkungsgruppe“, ohne es so gemeint zu haben. Die Empörung war groß. Wer wird hier gelenkt? wurde gefragt. Der Begriff „Lenkungsgruppe“ hatte Fantasien von unterschiedlichen Machtverhältnissen ausgelöst. „Da verstanden wir, wie wichtig die Begrifflichkeiten sind. Denn niemand will sich lenken lassen.“ Anschließend wurde schriftlich festgelegt, dass alle die gleichen Rechte haben.
Öffentlichkeitsarbeit muss ausgebaut werden
Alle Engagierten sind sich einig, dass die Öffentlichkeitsarbeit weiter ausgebaut werden sollte. „Man findet uns zum Beispiel nicht direkt oben auf der Homepage der Stadt Schwerte.“ Auch könne vielleicht nicht jeder direkt etwas mit der Bezeichnung „MitMachStadt” anfangen. „Vielleicht wäre es besser es umzudrehen in MachMitStadt”, überlegt Hannes Köpke aus der Werbegemeinschaft Schwerte.
Auf der Homepage (www.mitmachstadt.schwerte.de) finden engagierte Bürger*innen eine Ideenplattform. Hier können sie Ideen für ihre Stadt vorschlagen und darüber abstimmen lassen. Erhält eine Idee mindestens 100 Likes, wird sie direkt in den Ausschuss aufgenommen. „Aber auch das ist kein Selbstläufer“, sagt Jochen Born. „Man kann die Leute nicht nur digital informieren, sondern muss zu ihnen hin.“ Aktuell sind drei Ideen auf der Ideenplattform vermerkt – zwei davon, wie das „Verkehrsexperiment autofreie Innenstadt“, haben die nötige Like-Anzahl erreicht und werden aktuell geprüft.
Vom Partner-Netzwerk profitieren
Schwerte pflegt intensive Freundschaften zu anderen Städten aus dem Kommunennetzwerk NRW und profitiert vom Partner-Netzwerk der Engagierten Stadt. Aktuell ist Schwerte in einem Tandem-Projekt mit Bitterfeld in Sachsen-Anhalt. Der Austausch der Städte findet auf einer unbürokratischen Ebene statt – aktuell aufgrund der Pandemie hauptsächlich online.
Schwerte soll grüner werden
Sabine Miehe von „Schwerte pflanzt“ engagiert sich seit dem Renteneintritt viel in ihrer Stadt. Gemeinsam mit ihren Mitstreiter*innen pflanzt Miehe Steinbeete in der Stadt um, legt Hochbeete an und verteilt kostenlos Blumenzwiebeln an Mitbürger*innen. Die nächste Idee: Einen interkulturellen Begegnungsgarten im Stadtzentrum anzulegen. Ein passendes Grundstück ist bereits ins Auge gefasst worden.
Als Miehe anfing sich ehrenamtlich zu engagieren, war sie überrascht, wie nah dran sie an der Kommunalpolitik sein konnte ohne einer Partei angehören zu müssen. „Es entpuppt sich als Schatz in die Vernetzung hineinzukommen und zu merken, wie kurz die Wege sind“. Sie nennt aber auch einen Umstand, der die ehrenamtliche Arbeit erschwert: Die Gefahr für fremde Zwecke missbraucht zu werden. „Schwerte pflanzt“ versuchte bekannter zu werden und die Stadt grüner zu machen. „Die Bevölkerung sprang zunächst nicht so drauf an, aber die Politik hat uns bemerkt. Was sehr zwiespältig ist im Moment: Wir empfinden uns als Feigenblatt.“
Vernetzungskultur fördern
Um die Vernetzung zu fördern, lädt Schwerte einmal im Jahr zur Vernetzungskonferenz statt. Dieses Jahr findet sie Ende März in der Rohrmeisterei, einem Bürgerkulturzentrum in einem ehemaligen Fabrikgebäude im Herzen der Stadt statt.
An der roten Ziegelwand ist noch eine Inschrift zu lesen: „Laufenlassen der Motore verboten!“ Rund 35 Engagierte aus Schwerte haben sich heute zusammengefunden. Vor der Pandemie waren es laut Anke Skupin mindestens doppelt so viele. Dr. Konrad Hummel, ehemaliger Verwaltungsmitarbeiter mit langjähriger Erfahrung im ehrenamtlichen Engagement, hält ein Impulsreferat – aufgrund seiner Corona-Infektion online.
Er erzählt, dass die Anzahl der Bürgerinitiativen in den letzten Jahren gestiegen seien. Und betont, dass die Gemeinde und die Kommune die wichtigsten demokratischen Säulen in unserer Gesellschaft sind. Ebenso wie Anke Skupin ist er der Meinung, dass eine kluge Bürgerbeteiligungsstrategie früh ansetzt.
Diskussion grundlegender Fragen
Das Publikum stellt Fragen. Wie regt man die Jugend an, sich zu engagieren? Hummel antwortet ausführlich. Das Handlungsorientierte sei für Jugendliche entscheidend. „Das Anpflanzen von drei Tomaten ist sinnvoller als ein Vortrag über Tomatenzucht. Es gibt kein Patentrezept, am Ende entscheidet sich ob die Jugendlichen Vertrauen in die Demokratie haben.“
Anke Skupin legt mit ihrer Frage den Finger gleich in die Wunde. „Wie kann man mit dem Machtwechsel in der Politik umgehen?” Hummel kann kein Patent-Rezept geben: „Im schlimmsten Fall herrschen ein halbes Jahr vor und nach der Wahl Stillstand. Es kriselt an Vertrauen bei Machtwechseln.“
Nach dem Vortrag finden sich die Anwesenden an verschiedenen Thementischen zur Diskussion zusammen. An Tisch 2 zum Thema „Schaffung von Vertrauen & Zusammenarbeit“ wird leidenschaftlich diskutiert. Das Beispiel der Gesamtschule in Holzen wird herangezogen. Jemand empört sich: „Die Bürger wurden nicht informiert!“ Ein anderer widerspricht: „Nicht alle Infos müssen vorab mitgeteilt werden, nur die relevanten.“ Ein dritter, Verwaltungsmitarbeiter, wirft ein, dass die Verwaltung sich mehr Verbindlichkeit von Seiten der Ehrenamtlichen wünschen würde um besser planen zu können.
Die Schwerter Ehrenamtlichen bemühen sich, verschiedene Perspektiven zu verstehen und die Informationen zusammenzutragen. Sie streben nach ständiger Verbesserung.
Die Grundschule hat gewählt
Am Wahltag Anfang April an der Friedrich-Kayser-Grundschule haben die Kinder am Ende für die Neuanschaffung von Gokarts gestimmt. Das Ergebnis wurde mit lautem Jubel begrüßt und es wurde verabredet, dass Bürgermeister Dimitrios Axourgos und Schulleiterin Sabine Jost die Gokarts mit einem kleinen Wettrennen einweihen sollen. Die Kinder nahmen alles selbst in die Hand, erstellten Namensschilder und Werbevideos für ihre Idee.
Aktuell steht die Stadt Schwerte, wie viele andere Städte in Deutschland vor der großen Herausforderung, Geflüchteten aus der Ukraine Schutz zu bieten. Der Arbeitskreis Asyl organisiert Unterkünfte in Privatwohnungen, Sprachkurse, Begegnungscafés und unterstützt bei Amtsgängen. Anke Skupin ist zuversichtlich: „Ohne das ehrenamtliche Engagement des Arbeitskreises Asyl hätte die Stadt die letzte große Flüchtlingswelle 2015 nicht alleine bewältigen können.“
Ein Text von Ljuba Naminova.