Dessau-Roßlau möchte den Zusammenhalt der Stadtgesellschaft durch ein nachhaltiges Engagementkonzept stärken.
Die kreisfreie Stadt Dessau-Roßlau ist mit 78.806 Einwohner*innen[1] die drittgrößte in Sachsen-Anhalt. Die überwiegend ältere Bevölkerung wird zunehmend kleiner, der Nachwuchs fehlt – an Fachkräften in den Betrieben vor Ort, aber auch in den Vereinen. Die Elbe trennt die beiden Ortsteile, was für die Bürger*innen der fusionierten Stadt nicht unbedingt zur Liebe auf den ersten Blick führte, sondern eher zur Zweckehe, wie Katrin Hinze, Koordinatorin des Netzwerks Engagierte Stadt Dessau-Roßlau, beschreibt. In Dessau liegt das Rathaus, Museen, Cafés und Restaurants, das Theater, das städtische Leben, die Hochschule. Mit der Regionalbahn ist das sieben Kilometer entfernte, ländlicher geprägte Roßlau von Dessau aus zwar gut zu erreichen – die Roßlauer*innen würden auch nach Dessau kommen, die Dessauer*innen dagegen treibe es nur selten nach Roßlau. Das möchte Hinze gemeinsam mit der Steuerungsgruppe zur Engagierten Stadt ändern. Laut Oberbürgermeister Dr. Robert Reck sei es nicht immer ganz einfach unter den demografischen Vorzeichen, aber gerade über die Wege des Engagements könne ein Zusammenbringen erreicht werden. Mit einem neuen Engagementkonzept sollen der Zusammenhalt in der Stadtgesellschaft gestärkt, der Perspektivwechsel und eine Anerkennungskultur für Ehrenamtliche in Dessau-Roßlau etabliert werden.
2015 bis 2019 war Dessau-Roßlau schon einmal Teil des Bundesnetzwerks Engagierte Stadt. Damals aber sei die Verwaltung nicht so sehr eingebunden gewesen, zumal das Projekt monothematisch um Zuwanderung und Integration von Geflüchteten in die Stadtgesellschaft kreiste. Man habe das Verständnis einer engagierten Stadt zu eng gefasst, so Hinze. 2019 war Dessau-Roßlau deshalb nicht im Netzwerk. Die Koordinatorin meint, vielleicht habe es diese Zeit und Unterbrechung gebraucht, damit die Strukturen neu aufgebaut werden können: die jetzt mehr auf ein Miteinander und thematisch breiter ausgerichtet seien und nicht mehr in Konkurrenz zueinanderstehen, wie es in der ersten Phase als engagierte Stadt noch gewesen sei.
Das möchte Dessau-Roßlau jetzt also besser machen. Seit 2020 ist die Stadt wieder eine engagierte und möchte die Bürger*innen, die Stadtverwaltung, die Politik und die Unternehmen in den Dialog zu bringen. Die Wünsche der Bewohner*innen darüber, wie sie sich ihre Stadt vorstellen, sollen umgesetzt werden. Dazu haben sich im Oktober 2021 sogenannte Steuerungsgruppen gebildet, die bis zum Sommer aufgeteilt nach verschiedenen Themenschwerpunkten Konzepte erarbeiten, die im Sommer dem Stadtrat präsentiert werden sollen. Darin sind sich Verwaltung, Bevölkerung, Politik und Wirtschaft in Dessau-Roßlau einig: damit Engagement in der Stadtgesellschaft gelingen kann, braucht es eine feste Anlaufstelle, Ressourcen, Transparenz, Öffentlichkeit und nachhaltige Strukturen, die die Zusammenarbeit vereinfachen. Beim Aufbau solcher Strukturen unterstützt nicht nur die Teilnahme am Netzwerk engagierte Stadt und das Label, das den vielfältigen bereits vorhandenen Engagementformen in Dessau-Roßlau ein Dach gebe, sondern auch die Tandem-Arbeit mit Radebeul, so Hinze. Dieser Austausch habe den Anstoß gegeben, diese Steuerungsgruppen zu bilden. Einer der dort Engagierten ist Thomas Passek. Er vertritt die Interessen der Wirtschaft und betont, dass es nicht nur Unternehmer braucht, die Fördermittel geben und sich engagieren, sondern dass
Ehrenamt und Wirtschaft sich gegenseitig brauchen. Er möchte Chancen für junge Menschen schaffen, Nachwuchs fördern, um dem Fachkräftemangel in Dessau-Roßlau entgegenzuwirken. Die Ausbildung neuer Arbeitskräfte bringe nicht nur für die Wirtschaft Gewinn, sondern auch für Vereine, die durch die unternehmerische Wissensvermittlung profitieren könne. Es brauche neue Wege der Zusammenarbeit, bei denen beiden Seiten etwas zurückgegeben wird. So hat zum Beispiel der Förderverein der Landesbücherei den „Kids Club“ ins Leben gerufen, der Kinder spielerisch an Literatur heranführen soll.
In einigen Projekten ist das Zusammenbringen verschiedener Teile der Stadtgesellschaft bereits gelungen. Die sogenannte Zukunftsreise ist ein bereits regelmäßiges Format der Bürger*innenbeteiligung. Daran nehmen 80-100 Leute teil, 140-150 bewerben sich. Die Verwaltung bemüht sich möglichst verschiedene Bevölkerungsgruppen für die Zukunftsreisen auszuwählen, die dann zu den Themen Kulturräume, Mobilität, Wohnen, Innenstadtbelebung, Bundesgartenschau, Bildung, Energie und Umwelt in Gruppen erarbeiten, wie sie sich ihre Stadt vorstellen.
In der Innenstadt stehen große Läden leer und kleinere Geschäfte zum Flanieren fehlen. Die Kavalierstraße, hinter der auf der einen Seite drei hohe Plattenbauten strotzen, auf der anderen Rathaus- und Kirchturm zu sehen und das Schloss zu erahnen sind, wird mit dem Bauhaus-Museum, dem Café Lilly und dem Zugang zum Rathauszentrum mittlerweile langsam wieder etwas aufgewertet. Den leeren Straßen und der sinkenden Bevölkerung möchte Dessau-Roßlau als engagierte Stadt entgegenwirken. So zum Beispiel mit dem Gartenreich im Sommer. Überall in der Stadt werden bepflanzte Holzmöbel aufgestellt und eine Bühne mitten auf dem Rathausplatz. Das soll wieder mehr Menschen aus der näheren Umgebung nach Dessau ziehen.
Über das Kulturnetzwerk will die Stadt außerdem Wege schaffen, dass die Bewohner*innen häufiger in die Museen gehen. Es soll mehr Angebote für Kinder und Jugendliche geben. Hinze sieht sich selbst als Türöffnerin, die Leute zusammenbringt: „Bis auf das Café Lilly gibt es für junge Leute bisher noch nicht so viel. Daran müssen wir arbeiten. Gerade auch an unserer Kommunikation: Engagierte Stadt ist für alle! Wir lernen alle voneinander und miteinander.“
Das Miteinander, den Zusammenhalt in der Stadtgesellschaft schätzt auch Integrationskoordinatior Christian Altmann sehr. Dafür brauche es Engagement als zentrale Säule der Integrationsarbeit. Er berichtet von den Vielfaltsgestaltern. Vielfalt setze sich zusammen aus Herkunft, Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, Ethnie usw. Das Integrationsbüro entwarf so anhand von Studien ein Konzept, wie Menschen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen durch gemeinsame Interessen zusammenkommen können. Innerhalb von drei Jahren hat es mit über 140 Partnern daran gearbeitet, finanziert durch die Bertelsmann Stiftung.
Bei dem so entstandenen One Community Project fand Begegnung zwischen Studierenden und der älteren Bevölkerung. Sie haben ein Musikvideo produziert, waren gemeinsam an der Eröffnung des Bauhaus Museums beteiligt. Sie haben vor der Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Konzert gespielt. Musik hat die Menschen zusammengebracht. Menschen, die von Demenz betroffen sind, waren plötzlich wieder Gestalter.
Zur Stärkung des Zusammenhalts als Handlungsziel der Integrationsarbeit braucht es laut Altmann zwei Dinge: die diversitätsorientierte Verwaltung, als Netzwerk und Arbeitgeber auf der einen und auf der anderen Seite das zentrale Bild des zivilgesellschaftlichen Engagements.
„Ohne das soziale Ehrenamt würde unser gesamtes gesellschaftliches System gar nicht funktionieren. Der Anker ist Zusammenhalt, wir brauchen Ressourcen in Form von Strukturen, die helfen Sachen leichter zu verwirklichen. Dem Gedanken folgend funktioniert auch Integration“, so Altmann.
Die Zuwanderung 2015 habe zu mehr Engagement geführt. Herausforderungen sieht Altmann darin, dass Engagement meistens nur bei den Schichten verortet wird, die es sich auch leisten können, die Zeit haben. Bildungsfernere Schichten, Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund könnten diese Indikatoren teilweise nicht aufweisen, seien seltener in Vereinen, oder blieben nur für wenige Jahre in der Stadt. Diesen Eindruck hat auch der Oberbürgermeister, dass es nicht immer gelingt, alle Gruppen zu beteiligen, selbst wenn sie sich wie bei den Zukunftsreisen als Stadt darum bemühen. „Die Menschen leben nicht mehr dort, wo sie geboren wurden, oder zur Schule gingen, sie verlassen Lebensräume und so verändert sich auch Engagement in der Gesellschaft“, analysiert Altmann. „Die Menschen, die zu uns gekommen sind, sind eine große Ressource. Wir haben jetzt wieder viele Kinder und Familien. Es braucht Leute mit Fantasie, einen Rahmen, Geld, Strukturen und den Austausch mit Leuten vor Ort, die Zielgruppen ansprechen – so gelingt Engagement.“
Von gelungenem Engagementformen berichten auch Marcus Geiger, Gründer von „Buntes Roßlau e.V.“ und Mitglied im Stadtrat, und die Studierenden des Café Schillig im Theaterviertel. Die Idee zum Café Schillig entwickelten Studierende der Dessauer Hochschule. Sie wollten mehr studentisches Leben auch in der Innenstadt und schufen einen Begegnungsort mit kulturellem Fokus für Studierende und Stadtbevölkerung. Früher war die Eisdiele eine Art Institution, alle kannten es. In diese Fußstapfen möchte das Café Schillig treten, das in seiner Art bisher das einzige in der Stadt ist – bloß heißt das Genussgut dann nicht mehr Eiscreme, sondern Kunst und Kultur. Bei der Eröffnungsausstellung wurden unter dem Motto „Kunst für ‚nen Fuffie“ Werke von Studierenden und Künstler*innen des Dessauer Kunstvereins verkauft. Der Oberbürgermeister hielt eine Eröffnungsrede und das Café sei voll gewesen. Die Hälfte der Einnahmen ging an die Kunstschaffenden, die andere finanziert dem Schillig für ein paar weitere Monate die Miete und Nebenkosten, der große Knackpunkt sei die Finanzierung. Das Schillig ist jeden Mittwoch von 10-15 Uhr geöffnet. Dort diskutieren die Studiereden derzeit über regelmäßigere Formate. Das Café soll ein Ort werden für Musikabende oder Workshops, Lesungen, politische Bildungsveranstaltungen. Noch engagieren sich größtenteils Studierende, aber ein großes Ziel ist es auch, verschiedene Menschen aus der Stadt ins Café zu bewegen. Die Dessauer Bevölkerung sei aber skeptisch, so einer der Studierenden, da brauche es viel Überzeugungsarbeit, um die Leute hierhin zu kriegen. Die Herausforderung nehmen sie an. „Da geht noch mehr!“
Geiger jedenfalls ist bereits davon überzeugt, der Ruf des Cafés sei schließlich bis nach Roßlau geschwappt. Sein Verein sei ähnlich klein, lose und ohne Rechtsform gestartet. Der Grund war ein politischer: Als 2015 in Roßlau auf einer Veranstaltung in der Elbe-Roßl-Halle, der damalige Oberbürgermeister und die Bürgermeisterin der Roßlauer Bevölkerung verkündeten, dass das ehemalige Schwesternwohnheim in Roßlau eine temporäre Unterkunft für Asylsuchende würde, gab es große Gegenwehr vom ganz äußeren rechten Rand. Geiger habe sich darüber so erschrocken und nahm gemeinsam mit seiner Frau Kontakt auf zum Netzwerk „Gelebte Demokratie“. Sie wollten etwas tun für die Demokratie und vor allem gegen die Anfeindungen von Hilfesuchenden, gründeten 2016 die Initiative „Buntes Roßlau“. Trotz Demonstrationen mit Fackeln vor und Vandalismus am eigenen Wohnhaus lässt das Ehepaar nicht davon ab. Mittlerweile ist der Verein eine von der Stadt anerkannte politische Gruppierung, dessen Ziel es ist, in der nächsten Wahl zum Roßlauer Ortschaftsrat die Wiederwahl des NPD-Kandidaten zu verhindern „Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur wieder auf,“ betont Geiger. Ihre erste Aktion sei ein Picknick am Anhaltiner Platz gewesen. Gleichzeitig fand zwei Straßen weiter eine rechte Demo statt. „Wir hatten das Picknick als eine Demo angemeldet und Polizeischutz, das war auch gut so. Wir wollten uns auf keinerlei Provokation einlassen. Wir saßen mit 50 Leuten unter der Rotbuche, haben Gitarre gespielt und gesungen. Damit war dann unsere Protestform gegen rechts geboren.“ Seitdem veranstaltet der Verein jedes Jahr in Roßlau ein Open-Air-Festival in der Innenstadt von Roßlau, direkt an der katholischen Kirche, mit 300-400 Besucher*innen „Roßlau rockt für Vielfalt und Toleranz“. Buntes Roßlau ist auch einer der Vertreter, die den CSD im Sommer 22 nach Dessau holen wollen. Eine der größten und beliebtesten Aktionen des Vereins sind aber die „Kartons zu Weihnachten“. Vier Wochen lang sammelt der Verein jedes Jahr Spenden in den Geschäften in Roßlau, verpackt sie in Schuhkartons, und an Heiligabend werden sie an Kinder verschenkt, deren Familien sich keine Geschenke zu Weihnachten leisten können. „Das tollste ist die Dankbarkeit in den Kinderaugen.“
Als nächstes steht in Dessau-Roßlau Tag der Kulturen am 10. Juni an. Es sollen in der Stadt Kunstpromenaden und Mini-Kunstpromenaden für Kinder mit Werken von Künstler*innen aus der Umgebung in der Stadt aufgebaut werden, die Stiftung Bauhaus wird ihre Werkstätten für junge Leute öffnen, nachmittags soll es Programm für Familien geben und abends Lesungen und Theatervorführungen. Auch das Schillig will daran teilnehmen. Mit diesem Tag wollen die Engagierten in Dessau-Roßlau Aufmerksamkeit erregen und dem Engagement noch einmal mehr Aufschwung geben.
Unter dem Dach der Engagierten Stadt sieht sich Dessau-Roßlau auf einem guten Weg, Ehrenamt neu zu verstehen und weiterzudenken und die Stadtgesellschaft, die räumlich durch Plattenbau auf der einen, bürgerlichere Wohnhäuser auf der anderen Seite der Stadt, Roßlau hinter der Elbe, durch politische Einstellungen, ungleiche Bildung, Einkommen und Herkunft separiert erscheint, wieder näher zueinander zu bringen.
Ein Text von Julia Reinl.
[1] (Stand Juni 2021, https://www.mz.de/lokal/dessau-rosslau/dessau-rosslau-verliert-uber-500-einwohner-einwohnerzahl-sinkt-unter-79-000-3258901)